China

Das angelernte Türkisch, Farsi und Russisch kann ich nun wieder über Bord werfen. Selbst mit Englisch ist so gut wie gar nichts anzufangen.
Bereits aus Kasachstan kommend, auf die Grenze zu radelnd, tauchen da plötzlich Hochhäuser mit Glasfassaden auf, die in die Umgebung von Ost-Kasachstan so gar nicht passen. Die Grenze dann überwunden, halte ich kurz inne und rolle dann langsam über den Asphalt, der seines gleichen sucht. Ich beschließe einen kurzen Radtag einzulegen, um mich in dem nun sehr neuen Umfeld erst mal zurecht zu finden. Mein Ziel ist es, Bargeld zu beschaffen, eine Unterkunft zu finden und wenn alles gut läuft noch eine SIM Karte mit mobilem Internet zu besorgen. Nichts davon funktioniert! Kein Geld, kein Bett, geschweige denn eine SIM Karte. Für letzteres werde ich mir noch die nächsten 1200 km die Zähne ausbeißen.

Nun ja, ich bin in der Xinjiang Provinz und da herrschen besondere Regeln. Mehrere Anschläge in den 90igern und vom Staat befürchtete Unabhängigkeitsbestrebungen der Uiguren, bescheren dieser Provinz massive Polizeipräsenz und Sicherheitsvorkehrungen, worunter dann auch ich zu leiden habe. Täglich mehrfach Kontrollen an Polizei-Checkpoints, die in meinem Fall auch mal 2 Stunden dauern kann, bis der Reisepass entziffert wurde oder entschieden ist, ob ich denn überhaupt weiter radeln darf. Mitunter ist dazu auch mal ein Schichtwechsel des Personals notwendig, denn für Diskussionen und persönliche Befindlichkeiten scheinen die Beamten gänzlich unzugänglich.
Eine Unterkunft, welche berechtigt ist, Ausländer aufzunehmen, finde ich schlussendlich im Ausschlussverfahren durch die Hilfe einer Hotelangestellten, indem wir alle umliegenden Hotels zu Fuß abklapperten. Im Hotel dann gerade die Dusche verlassen, steht schon die Polizei vor der Tür, um meine Identität nochmal zu überprüfen, was die nächsten 1500 km durch Xinjiang nun zum Standard gehören wird. Bargeld kommt in der zweiten chinesischen Stadt dann auch aus dem Automat, was direkt für Entspannung sorgt.

Danxia Mountain

Eine Methode die nervigen Kontrollen an den Checkpoints zu verhindern, ist die Benutzung der eigentlich für Fahrräder nicht gestatteten Express-Highways. Diese bieten mir in mehrerlei Hinsicht Vorteile. Zum einen entgeht man den Kontrollen, die vorwiegend vor der Einfahrt in eine Stadt und direkt bei der Highway Abfahrt stattfinden. Zudem ist es auch deutlich sicherer dort Rad zu fahren.
Der Gegenverkehr ist abgegrenzt, wodurch die Fahrtrichtung auf den Spuren schon mal geklärt ist. Auf dem breiten Seitenstreifen ist genügend Platz für mich und außerdem, vermutlich aufgrund der Maut, ist auch deutlich weniger Verkehr. Ein Großteil der LKW tummelt sich zumindest auf den Nebenstrecken. Im Grunde trifft dies ja auch auf deutsche Autobahnen zu, nur wird man dort relativ schnell Thema einer Radiodurchsage sein.

Über 10.000 km bin ich nun pannenfrei unterwegs und nach dem vorsorglichen Wechsel von Bereifung und Antriebskomponenten (Mäntel, Schläuche, Kette, Kettenblatt, Ritzel, Rohloff-Ölwechsel) in Bischkek, gehe ich davon aus, dass dies bis Singapur auch so bleiben wird.
Nun treffe ich aber auf Tom aus England, der mit einem Fluch gesegnet, neben Speichen- und Nabenflanschausbruch, mit bereits weit über 30 Platten zu tun hatte. Zunächst gehe ich von einer leichten Übertreibung aus, doch nach dem Anblick von Tom's Schlauch, der vor lauter Flicken eigentlich gar nicht mehr zu erkennen war, erschien diese Anzahl an Platten dann durchaus glaubhaft. Dieser Fluch überträgt sich dann direkt auf mich und ich habe in Beisein von Tom innerhalb kürzester Zeit 5 Platten.
Für diejenigen die nicht an Flüche glauben, könnten auch die Drahtgeflechte von geplatzten LKW Reifen, die den Straßenrand säumen, dafür verantwortlich gemacht werden. Diese feinen Drähte bohren sich mühelos durch die ansonsten äußerst robusten Schwalbe Marathon Mondial Mäntel. Deutlich größere Vorkommen zerfetzter Karkassen auf türkischen und iranischen Straßen waren aus irgend einem unerklärlichen Grund unschädlich. Am Explosionsgeräusch der LKW Reifen, was ich zweimal aus nächster Nähe erleben konnte, war zumindest kein signifikanter Unterschied festzustellen.

Mit Tom verbringe ich 11 kilometerreiche Tage durch die Taklamakan Wüste und wir stellen fest, dass wir aufgrund sehr ähnlicher Routenführung die letzten 5 Monate nur mit wenigen Tagen Abstand hintereinander her gestrampelt sind und uns dabei mehrfach unbemerkt gegenseitig überholt haben.
Ein Blick in die Statistik verrät ja, dass das Zelten nicht gerade zu meiner beliebtesten Art der Übernachtung zählt, gerade, wenn es sich wie in China, mehr um ein Versteckspiel handelt. Da es in der Wüste vielfach die einzige Möglichkeit ist und Tom mit Vorliebe zeltet, kommt mein Zelt doch noch zu ein paar Einsätzen. Die Camping-Romantik will in China aber trotzdem nicht so ganz aufkommen. Die Suche nach einem geeigneten Zeltplatz, die ja meist nach dem Prinzip 'je später der Abend, desto schöner der Zeltplatz' abläuft, trifft nicht unbedingt in China zu. Es geht vielmehr darum, Ausschau nach einem Loch im Express-Highway säumenden Stacheldrahtzaun zu finden, wohinter sich dann, nach dem Durchschlüpfen, der Zeltplatz offenbart. So haben wir es uns unter der Autobahnbrücke, am Grund eines ausgetrockneten Wasserreservoirs oder hinter Wallen entlang des Highways gemütlich gemacht. Aus ergonomischer Sicht, ist der grobkörnige Wüstensand geradezu optimal als Zeltuntergrund geeignet, indem sich bei mir als Seitenlagenschläfer, das Becken und die Schulter mit lockerem Sitz eingräbt und bei Lagenwechsel umgehend neu anschmiegt.

Zelten unter der Highway Brücke

Erwachen

In der Provinzhauptstadt Urumqi, kommen wir nochmal in den Genuss der Xinjiang-Schikane. Bei Dunkelheit dort ausgemergelt eingetrudelt wird uns an der Rezeption eines Hostels erklärt, dass die Stadt derzeit für Ausländer gesperrt sei. In Turpan – eine 200 km entfernte Stadt – könnten wir aber bestimmt Nächtigen. Wir halten das zunächst für einen schlechten Scherz, da wir durch bestimmt 3 Checkpoints vor der Stadt, mehr oder weniger durchgewunken werden. Wir wenden uns an ein paar Sicherheitskräfte, die hier an jeder Ecke rumstehen und fragen um Rat. Aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit und unserem Fortbewegungsmittel wird uns empfohlen, doch in einem KFC (Kentucky Fried Chicken, Fast Food Restaurant) zu verweilen, diese hätten 24 Stunden geöffnet! Da auch dies kein Scherz ist, bleibt nur noch der Griff in die Geldbörse. Hochpreisige Unterkünfte scheinen eine Ausnahme zu machen öffnen gegen entsprechende Bezahlung die Pforten für zwei ausgehungerte, verschwitze und mittlerweile auch dünnhäutige Radler.
Je weiter wir uns von Urumqi wieder entfernten, spätestens jedoch mit dem Erreichen der Gansu Provinz, sind Kontrollen und Checkpoints kein Thema mehr.

Danxia Mountain

An einer Highway Raststätte Pause machend, versucht mich ein Chinese einzuladen, was Dank Google-Übersetzer und Bilderwörterbuch schlussendlich auch gelingt.
Auch wenn ich noch so fest der Überzeugung bin, die Aussprache des Wortes Déguó (Deutschland) oder Cèsuǒ (Toilette) zu beherrschen, erwidern mich nur fragende Gesichter. Nachdem die Botschaft dann mittels Übersetzungs-App verstanden wurde und vom Gegenüber nochmal korrigierend wiederholt wird, denke ich mir nur - ja genau das habe ich doch gesagt! Man könnte Fantasielosigkeit unterstellen, denn wie viele Länder, die sich so ähnlich wie Déguó anhören, soll es denn noch geben? Jedoch kommt der Tonhöhe eine entscheidende Bedeutung zu, wodurch ein Laut verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Dies ist wohl auch ein Grund für die oft lauten Unterhaltungen im Chinesischen.
Jedenfalls verabreden wir uns in der rund 300 km entfernten Stadt Shihezi, tauschen den WeChat Kontakt aus (einem Art WhatsApp mit Bezahlfunktion und diversen anderen Spielereien, in dem in China quasi der Alltag organisiert wird) und ich versichere, mich bei meiner Ankunft in 3 Tagen zu melden. In der gut 30 minütigen Google-App und Bilderbuch Unterhaltung werden wir immer wieder von anderen Interessierten durch Getränkespenden und Nachtisch-Gaben unterbrochen. Noch vor meinem Eintreffen in Shihezi werde ich dann von einer Frau, die später noch ihre Tochter als Übersetzerin engagiert, in einen Gruppenchat eingeladen. Mit der Annahme, dass dies wohl die Frau des Einladenden ist, konkretisiere ich meine Ankunftszeit und wir vereinbaren einen Treffpunkt. Beim Empfang in Eric's Bar, der als einziger Englisch konnte und somit für den folgenden Abend unverzichtbar war, tauchen dann auch die Mitglieder des Radclubs auf, von denen im persönlichen Gespräch die Rede war. Darüber, dass der Einladende nicht auftauchte, machte mir, aufgrund der Stimmigkeit der restlichen Umstände, zunächst keine Gedanken. Als wir dann in geselliger Runde saßen und gefühlt jeder auf jeden einen Toast ausbrachte, der meist mit einem "ganbei" (das Glas trocknen, auf Ex trinken) endete, brachte ich es dann doch mal zur Sprache, ob denn der mich an der Raststätte Einladende auch noch käme. Mir schien, als ob er der Runde durchaus bekannt sei, doch mehr als "he is out" habe ich als Antwort nicht bekommen.
Nach abschließender Bierverkostung in Eric's Bar, wo Eric unter diversen internationalen Bieren auch noch ein Franziskaner Weißbier hinter dem Tresen hervorzauberte, ließen wir den Abend ausklingen.
Erst am nächsten etwas verkaterten Morgen erreicht mich eine WeChat Nachricht, wann ich denn in Shihezi ankommen würde!? Der vom Vortag für alle alles bezahlende, offensichtlich wohlhabende Bauunternehmer, scheint sich irgendwie den QR-Code meines WeChat Kontakts erschlichen zu haben, um seinen Kollegen für diesen Abend einen Spezialgast präsentieren zu können. Nun ja, genossen habe ich den Abend allemal.

Bierverkostung in Eric's Bar

Dem Gegenüber steht ein Erlebnis, während dem ich mich in der "Truman-Show" wähnte. Mitten am Tag, kam ich, durchgeschwitzt von einer übelst scharfen Nudelsuppe, aus einem Restaurant und traue zunächst meinen Augen nicht. Auf einer etwa 50 Meter entfernten Straßenkreuzung liegen zwei Motorroller und zwei regungslose Menschen am Boden. Die Ladung der Roller, ein komplettes Obst- und Gemüsemarktsortiment liegt quer verstreut über der Kreuzung. Das paradoxe aber, was die Szene so unrealistisch erscheinen ließ, sind einige Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer, die an der Ampel auf ihr Grünzeichen wartend, den offensichtlichen Unfallort mit zwei reglosen Menschen am Boden, lediglich mit einem müden Blick registrieren und die Szene tatenlos passieren.
Erst als ich diese unwirklich erscheinende Situation als real einordnete und zum Unfallort eilte, robbten sich die zwei Verunfallten zum Straßenrand und einer davon war dann auch in der Lage telefonisch um Hilfe zu rufen. Eine derartige Form von Ignoranz und Empathielosigkeit ist mir bisher nicht untergekommen. Leider war dies nicht der einzige Unfall den ich in China beobachtete, bei dem Passanten völlig teilnahmslos die Geschädigten ignorierten.

Die Erfahrungen und kulturellen Einblicke die ich in China erleben konnte, sind bis dahin die Eindrücklichsten. Man beobachtet so viel Neues und Unbekanntes, was ich oftmals auch gar nicht einordnen oder bewerten konnte.
Das ständige hochziehen der Nase und Spucken, sowie die Geräuschkulisse beim Schlürfen der Nudelsuppe sind ja bekannt. Doch wenn eine 80-jährige Frau den Rotz lautstark hochzieht und den Klumpen vor dir auf den Boden kotzt, wirkt das schon erst mal befremdlich. Nicht umsonst kommt in der U-Bahn von Kunming die Durchsage, doch bitte nicht zu Essen, Trinken - und ja - auch nicht zu spucken!
Jüngere Männer lieben es, nach dem Essen ihr T-Shirt anzuheben, die Plauze in die Sonne zu strecken und den Buddha einen guten Mann sein zu lassen.
Der Versuch ein Gespräch zu starten, endet recht schnell im gegenseitigen Einsehen, dass das Gegenüber kein Wort Englisch bzw. Chinesisch versteht. Oftmals greift der Chinese dann zu Stift und Papier, malt einige der für mich als Strichmännchen aussehenden Schriftzeichen darauf, mit der Annahme: Aber Lesen wird er doch wohl können!
Eine schöne Geste ist das höflich wirkende hantieren von Geldscheinen. Rückgeld wird einem stets mit zwei offenen Händen und den darin ausgesteiften Geldscheinen entgegengehalten, was ich recht schnell adaptiert habe. Wer beim nächsten Besuch im chinesischen Restaurant mal darauf achtet, kann sicher eine leicht abgeschwächte oder abgewandelte Form dieser Geldrückgabe beobachten. Um hier mal einen kulturellen Vergleich zu ziehen: In der Türkei sah ich Kunden nach einem Friseurbesuch die Münzen auf den Boden des Salons werfen, um die Rechnung zu begleichen.
Von jedem, einem in Europa bekannten Produkt, gibt es eine chinesische Interpretation oder eben anders herum. Das zieht sich durch vom Aufzug bis zur Wäscheklammer. Chinesischer Hersteller, abgewandeltes Design und gerade die Funktion der Wäscheklammer hat mich überzeugt.

Gebetsfahnen-Meer

Durch die Größe des Landes komme ich auf meiner Route durch landschaftlich stark unterschiedliche Gebiete von Wüste, Bergen, magisch schönen Grasland-Hochebenen und Dschungel. Kulturell passiere ich dabei islamisch, buddhistisch und tibetisch geprägte Regionen, wobei das Buddhistische zu meinem Erstaunen den geringsten Teil ausgemacht hat. Genauso, wie Reis erst ab etwa 2000 km China die Speisekarte erobert und die geliebten Laghman-Nudeln langsam aber sicher ablöst, die bereits in den STAN Staaten anzutreffen waren. 

Die Erlebnisse aus knapp 60 Tagen und gut 5000 km China auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist mir nicht möglich und so passt folgender Spruch auf kein Land besser als auf China:

Eine fremde Kultur ergründen zu wollen,
ist wie der Versuch, den Horizont zu erreichen…
Irgendwann steht man wieder an dem Punkt,
an dem man begonnen hat – doch der Blick zum Horizont ist ein anderer.
Annette Bokpe

Kommentare

  1. Hoi Andi, immer wieder schön von Dir und Deinen Abenteuern zu lesen. Ich wünsche Dir weiterhin viel Spass.

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  2. Hallo Andi, hatte mir vor kurzem eine Doku über China angeschaut und habe dann dazu passend deinen Beitrag gelesen. Haste wieder sehr lebhaft und originalgetreu geschrieben :-)

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